Wahnmahre

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Kürzlich habe ich mich zufällig im Voicechat mit einer mir bis dato unbekannten Frau unterhalten. Seit ich klein bin, nimmt dieses Thema viel Raum in mir ein, aber erst durch das erwähnte Gespräch habe ich den Entschluss gefasst, hier einen Text darüber zu veröffentlichen. Um mit einem Wort zu benennen, was ich meine, müsste wahrscheinlich ein neues Wort erfunden werden, und das habe ich auch getan.
Ich möchte nicht lange um das Thema herumreden - obwohl ich es, wenn ich es recht bedenke, vielleicht doch gern täte (das ist manchmal so meine Art), aber um deine Geduld nicht überzustrapazieren, komme ich gleich zur Sache.

Draußen ist es dunkel. Es ist eine stürmische, ungemütliche Nacht. Hier drinnen ist es gemütlicher, aber nur deshalb, weil es nicht stürmt. Ansonsten... irgendetwas lauert hier. Nicht unter meinem Bett.
Vielleicht in der Küche.
Es ist kein Einbrecher und kein Verrückter. Es ist kein seltsamer Verfolger oder Stalker, es ist nicht einmal ein Mensch.

Es ist eine Wesenheit, ein eingebildetes gräßliches Ding. Ich nenne es einfach mal Wahnmahr.
Für mich verlaufen die meisten Nächte ohne Wahnmahre. Es liegt nicht an der Dunkelheit oder am Wetter. Wahnmahre können mich auch (selten) am hellichten Tag heimsuchen, aber Dunkelheit begünstigt deren Auftreten. Es ist eine Geistesverfassung, die mich dazu bringt, Wahnmahre zu visualisieren, angeregt durch dunkle Gedanken, Horrorfilme oder -literatur oder sonstige, mir unbekannte Einflüsse.

Was ist ein Wahnmahr?
Zuallererst handelt es sich um ein erfundenes, manchmal unbestimmtes Geschöpf und niemals um eine reale Bedrohung. Jemand, der Angst vor Einbrechern hat, fühlt sich vielleicht sicher, wenn er genügend Maßnahmen zur Abriegelung seines Wohnraumes getroffen hat. Wahnmahre lassen sich durch physische Maßnahmen nicht aufhalten. Sie können überall sein und alle Formen annehmen. Das, was sie alle gemeinsam haben, ist, dass sie allesamt ziemlich schrecklich und furchteinflößend sind.
Ob sie groß oder klein sind, spielt keine besondere Rolle - eine halbverweste Katze, die mir ins Gesicht springt, hat etwa denselben Schreckens-Effekt wie eine klauenbewehrte Hand, die nachts meine eigene Hand in der Waschmaschine packt, während ich diese ausräumen möchte. Oder wie eine wahnsinnige Frau mit einer Axt, die ihren Schatten auf meine geschlossenen Lider wirft, während ich in der Badewanne liege.

Was mich an Wahnmahren unter anderem fasziniert, ist, dass die von ihnen erzeugte reale Bedrohung gleich null, die von ihnen erzeugte Angst jedoch groß ist. Wie schon an einigen anderen Stellen von Pandorama beschrieben (z.B. !LINK ID 21 Zwei Welten LINK! oder !LINK ID 68 Meine Muse LINK!), bewohnen Menschen ständig zwei verschiedene Welten, die Realität einerseits und eine Welt der Vorstellung, des Eindrucks und Gefühls, der Interpretation andererseits.
Es gibt bestimmt viele Menschen, die nicht von Wahnmahren heimgesucht werden, aber für mich stellen sie eine zuverlässige Quelle realer Beklemmungsgefühle dar, die manchmal tatsächlich Auswirkungen auf mein Verhalten haben.

Ich beziehe meine Wahnmahre vor allem aus Horrorfilmen und -literatur. Meine süße kleine Freundin aus The Ring (eher die japanische Version) gehört zu solchen Leihgaben ebenso wie die Wasserleiche aus Kubricks Verfilmung von The Shining.
Die Zombies aus Dawn of the Dead haben bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen, aber bei mir sind es nicht nur konkrete Figuren, die mir als Wahnmahre fungieren, sondern auch rätselhafte Dinge oder Vorstellungen, die denselben Zweck erfüllen und mir die Gänsehaut als stehende Welle auf Rücken und Hals jagen.
Beeindruckt hat mich beispielsweise eine völlig nebensächliche Figur in Zimmer 1408, nämlich der Mann im Zimmer auf der anderen Straßenseite (oder der anderen Seite des Innenhofs - das weiß ich nicht mehr), der quasi eine Art Spiegel des Protagonisten ist. Dieser Mann ist keine konkrete Figur, er hat nichts schreckliches an sich (ja, man sieht ohnehin nur seine Silhouette), aber die Rätselhaftigkeit seines Wesens und seiner Existenz finde ich irgendwie gruselig.
Letztens bin ich durch Zufall auf den Begriff Rattenkönig gekommen, und diese Verklumpung von Ratten und dieser seltsam unzutreffende Name haben mir für kurze Zeit auch einen Schauer über den Rücken gejagt.
Die beiden letztgenannten Wesen sind keine Wahnmahre, weil ich sie nicht als furchteinflößende Kreaturen visualisiere, aber sie erzeugen bei mir eben auch einen gewissen Schauer, der dem von Wahnmahren ähnlich ist. Die Heckentiere aus "The Shining" gehören für mich auch dazu.

Jeder hat seine eigenen Wahnmahre (wenn er sie denn hat), und deshalb muss ich darauf vertrauen, dass du als Leser oder Leserin eine Vorstellung davon hast, was ich meine. Vielleicht sind es Werwölfe oder irgendwelche Wesen, die hinter einer Tür stehen, die du öffnest, vielleicht ist es das Monster im Schrank, ich weiß es nicht.

Ich sehe Wahnmahre nicht im üblichen Sinne - ich stelle sie mir vor. Man könnte sagen, ich sehe sie vor mir. Der Gedanke, sie wirklich real zu sehen, läßt mich glauben, dass ich in einer solchen Situation wahrscheinlich verrückt werden oder an einem Schock sterben müßte. Das mag sich weit hergeholt anhören, aber wenn ich daran denke, dass mir beispielsweise jemand halluzinogene Substanzen unterjubeln könnte, ist das zwar äußerst unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich.
Wahnmahre stören die Integrität meines Geistes, weil sie mich einer Angst aussetzen, die keine reale Ursache hat.

Bin ich vielleicht schon verrückt? Ja, vielleicht.

Wer als Kind noch nie halbherzig pfeifend in den Keller gegangen ist, um die Angst zu vertreiben, wer nachts ein gruseliges Buch liest und bei einem plötzlichen Geräusch sofort an einen Einbrecher denkt, der kann wohl die wahre Bedeutung von Wahnmahren nicht begreifen.

Wenn du Lust hast, einen eigenen Wahnmahr beizusteuern, benutze bitte das Kommentar-Formular. Ich freue mich über jeden Beitrag.


Kommentare
  • Wahnmahr .. merkwürdiges Wort. Trotzdem, es zeigt sich in manchen Nächten doch immer wieder, wie sehr ich mich (und da bin ich nicht allein) von Gefühlen und gänzlich irrationalen Ängsten beeinflussen lasse. Ja, ich kann es auch nicht lassen, mir immer wieder gute Horrorfilme anzuschauen, auch wenn ich dabei riskiere, nur neuen Stoff für meine nächtliche Wahnmahr zu liefern. Ohja, der Keller. Als kleines Kind und auch manchmal heute noch treibt in diesen Momenten, in denen ich der Dunkelheit ausgesetzt bin, meine Fantasie mit meinem Verstand Spielchen, wenn spontan alle erdenklichen Horrorszenarien inklusive gruseliger Wahnmahr visualisiert werden. Mein ansonsten rationales Denken wird ausgetrickst und übergangen, der eigentlich lächerliche Gedanke, es könnte ja wahr sein, lässt mich in beklemmenden Situationen Angst spüren und am nächsten Morgen an meinem Verstand zweifeln. Das ist vielleicht auch nur die weniger schöne Seite an der Eigenschaft des Menschen, teilzeits in der Welt der Gefühle und Einbildungen zu leben - ein Preis den es sich lohnt zu zahlen, denke ich.

  • Blasius
    Blalala

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