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Woher hatte ich die Zeit, zu reimen und zu rätseln? Zum Schnitzen und Schwatzen, zum Kochen und Kegeln? Wie konnte ich rudern und rasten, malen und murren, angeln und albern?
Wenn ich heutzutage daran denke, ein Projekt innerhalb eines Jahres zu realisieren, ist das ein planbarer Zeitraum, aber in 30 Jahren ein vollständiges Leben unterzubringen, komplett mit ersten Worten, ersten Zähnen, erster Liebe, und das alles in der ersten Reihe, mittendrin statt nur dabei, das ist mir unvorstellbar.

Wo ich hingegangen bin, brauchte ich keine Sonnencreme und kein Insektenschutzmittel - wer würde auch schon auf die Idee kommen, Insekten zu schützen?

Ich packe meinen Rucksack für 30 Jahre. Ganz nach unten kommen die höchst emotionalen Momente. Lachen oder Schreien ist angesagt - wer sich nicht entscheiden kann, schläft einfach. Weck mich auf, und ich schreie, kitzel mich, und ich lache. Kitzel mich weiter, und ich schreie. Mach etwas Lustiges, und ich lache. Mach noch etwas Lustiges, und ich schreie. Tröste mich, und ich schlafe ein. Ich packe diese Momente ganz nach unten, so dass ich sie auch ganz sicher dabei habe.
Der Koffer ist schon fast voll, scheint es mir, und dabei habe ich erst ungefähr ein Fünfzehntel eingepackt. Was ist ein Monat? Passt er zur Not auch in eine Seitentasche? Ich finde es heraus. Ja, er passt.

Ich habe tagelang mit Spielen verbracht. Verzeihung, es waren Jahre. Jahre, es müssen Jahre gewesen sein. Ich habe gespielt, im Sommer, im Winter, mit Freunden und alleine, in der Stube, in der Küche, im Garten und im Regen. Ich habe auf Bäumen gespielt und in Mulden, hinter Sträuchern und Sofas und im (Ur)Laub. Ich habe gespielt und mich zu etwas gemacht, was ich nicht war und irgendwie doch war. Wie lange war ich jemand anders? Tage? Wochen? Passen die noch rein? Ich schaue skeptisch nach, aber es passt. Es ist ohnehin schon viel mehr drin, als ich dachte.

Ich habe Comics gelesen, vorzugsweise Donald Duck, es müssen Kilos, Dutzende von Kilos gewesen sein. Donald Duck und Micky Maus, Clever & Smart, Fix und Foxi, und überhaupt - die Kinderbücher! Pitje Puck, der getreue Briefträger, Malwine in der Badewanne und viele, viele kleine Bücher mit großen Bildern und großen Lettern. Wie lange braucht ein Kind, um 10 Kilogramm Comics zu lesen? Wochen? Ich hoffe, sie passen.
Sie tuns.

Ich war krank, ich hatte die Windpocken und die Masern und überhaupt mehr Grad Fieber als Sterne am Himmel. Ich hatte Kopfschmerzen und Bauchschmerzen, Brandblasen und Abschürfungen - ich konnte nicht zur Schule und auch meine Freunde nicht sehen.

Richtig, die Schule! Ich kann mich noch an meine Grundschullehrerin Frau Giese erinnern, als ich fast 6 war. Ich habe Jahre damit zugebracht, der Kreide in Lehrerhänden zuzusehen, wie sie auf einer Tafel erodiert. Ich habe mich hernach recht regelmäßig ganz ordentlich geprügelt, um dann im Religionsunterricht Kanon zu singen. Wie lange kann ein Mensch zur Schule gehen, ohne wahnsinnig zu werden? Ich habe es herausgefunden - bei mir waren es ungefähr 12 Jahre, danach war ich nicht mehr zu gebrauchen.

Meine Umzüge. Ich bin von hier nach da gezogen, und von da dann fast wieder nach hier. Und dort war ich auch noch, und überhaupt! An 6 Umzüge kann ich mich erinnern, aber ich möchte mich nicht darauf festlegen.

Und gelernt habe ich viel. Ich habe gelernt, alleine zu essen. Nicht mit den Fingern, nein, so richtig kultiviert mit Messer und Gabel. Ich habe gelernt, ein Fahrrad zu beschleunigen, ohne dabei aus dem Sattel zu fallen, und dasselbe noch einmal mit dem Einrad und dem Auto. Meine komplette Muttersprache habe ich auch noch gelernt. Ich habe einiges an Faktenwissen aufgenommen und sogar einiges über das Leben gelernt. Ich habe aus Fehlern gelernt und aus Risiken, die ich glücklicherweise eingegangen bin. Ich habe gelernt, was andere fanden, das man lernen sollte, und ich habe gelernt, was ich selbst für wissenswert hielt. Ich habe eine Unmenge an Dingen gelernt, die ich später niemals mehr gebraucht habe, und eine Menge Dinge, bei denen ich froh war, mich ihrer zum passenden Zeitpunkt zu erinnern.

Ich frage mich, wieviel Zeit ich am PC verbracht habe. Es müssen mittlerweile mehrere Jahre sein. Oft wird mir gesagt, dass ich sehr bald schlechte Augen bekommen werde, aber meine Augen funktionieren im Gegenteil ziemlich gut, und wenn ich tatsächlich vom Betrachten des Bildschirms schlechte Augen bekäme, dann hätte ich sie schon längst, scheint mir.
Ich habe die ersten Strichmännchen auf meinem Commodore 116 tanzen lassen, das war wohl vor etwa 20 Jahren. Danach hatte ich einen Commodore Plus4 inklusive Datasette (jahaa, press play to load), einen Atari ST, kurzzeitig einen Amiga 500(?), einen 286er, einen 486er und diverse Athlons und Pentiums.

Natürlich bin ich gewissermaßen noch immer der kleine Junge, der ich mal war, aber zusätzlich bin ich zwischendurch - ohne es zu merken - auch ein Mann geworden. Naja, vielleicht habe ich es doch gemerkt, ab und zu, bei bestimmten Entscheidungen, nach bestimmten Erfolgen.
Ich bin mittlerweile etwas sarkastischer, verständnisvoller, mutiger, ausgeglichener und vor allem viel älter geworden. Ich habe viele Dinge angehäuft, die ich nicht brauche, und vieles noch nicht erworben, was ich eigentlich längst nötig hätte. Seit mehr als 10 Jahren bin ich biologisch gesehen auf dem absteigenden Ast, aber biologisch gesehen bin ich auch nur ein Zellhaufen, also zum Teufel damit. ^^

Ich war zu Besuch in einigen Teilen der Erde (z.B. Kenia, Florida, Lanzarote, Tunesien, Spanien, Portugal, Malta, England, Frankreich, den Bahamas, Ägypten, Dänemark, Italien, Schweden, den Niederlanden (zugegeben, nur sehr kurz), Zypern, Jugoslawien und Österreich) und möchte einige andere noch gern sehen.
Überhaupt habe ich manchmal den Eindruck, schon viel gesehen zu haben, während ich in anderen Momenten staune, wie wenig ich über die Welt eigentlich weiß.

Ich habe oft nach innen geschaut, in meine subjektive Welt, die mit mir gewachsen ist und auf kleinstem Raum die weitläufigsten Universen beherbergt. In 30 Jahren sammelt sich einiges an. Ich habe nichts weggeworfen, denn ich habe keine Platzprobleme. Die Wesenheiten meiner inneren Welten nehmen keinen Raum ein, sie existieren auf der Basis von Gemütsregungen, sie sind die organischen Qualia meiner Person. Was mich nicht bewegt, wird nicht gespeichert.
Ob ich eine Übersicht habe? Nein. Ich habe Orientierungspunkte und finde mich zurecht. Meine subjektiven Universen wachsen schneller, als ich sie erforschen kann. Gut so, ich muss nicht alles wissen.

Ich habe viel gelesen. Ich hatte so viele Bücher angesammelt, dass ich bei meinem letzten Umzug etwa 3000 von ihnen entsorgen musste (ein Sprinter mit langem Radstand war halb gefüllt) - es ist mir ein Rätsel, wo ich sie alle herhatte. Es ist nicht mehr ganz so schlimm wie früher, aber ich tendiere schon wieder dazu, Stapel anzuhäufen, es ist wie eine Sucht.

Manchmal - gar nicht so selten - spüre ich ihn auch. Meinen Rucksack. Wenn er an den Schultern wehtut und ich mich hinsetzen muss. Und manchmal, wenn ich etwas dringend brauche, kann ich es aus ihm hervorholen. Es ist keine Zauberei, ich hatte es nur schon eine ganze Weile dabei. In 30 Jahren sammelt sich einiges an.

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